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Gontran Guanaes Netto, O povo da terra dos papagaios (The people of the land of the parrots), 1982

Gontran Guanaes Netto, O povo da terra dos papagaios (Die Menschen des Papageienlands), 1982

 

Liebe Freund*innen

Grüsse vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.

Burkina Faso in der Sahelzone des afrikanischen Kontinents wurde von der globalen Pandemie hart getroffen; die offiziell gemeldeten Todesfälle im Zusammenhang mit COVID-19 sind nach Algerien die zweithöchsten in Afrika. Schon in den vergangenen sechzehn Monaten wurden rund 840.000 der zwanzig Millionen Menschen im Land infolge von Konflikten und Dürre vertrieben; allein im März mussten 60.000 Menschen ihre Heime verlassen. Im vergangenen Jahr schätzten die Vereinten Nationen, dass 680.000 Einwohner Burkinabès kaum Zugang zu Nahrungsmitteln hatten; dieses Jahr schätzt die UNO, dass die Zahl auf 2,1 Millionen steigen wird. Die Region, in welcher die durch die Klimakatastrophe verursachte Austrocknung der Sahelzone zu einer schweren Agrarkrise geführt hat, war durch Konflikte um Ressourcen und Ideologie bereits stark belastet. Kein Wunder, dass Xavier Creach, der Sahel-Koordinator des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR), kürzlich sagte: «Die lokalen Gemeinschaften haben bemerkenswerte Großzügigkeit gezeigt, aber sie kommen nicht mehr zurecht. Die Kapazitäten des Landes sind überstrapaziert. Die herannahende magere Jahreszeit wird in Verbindung mit dem bewaffneten Konflikt und COVID-19 weitere dramatische Situationen und Vertreibungen der Bevölkerung nach sich ziehen. Die Uhr tickt, es bleibt uns nur noch wenig Zeit».

 

Pierre-Christophe Gam, The Murder

Pierre-Christophe Gam, The Murder (Der Mord), 2017.

 

Wie sich die Welt verfinstert hat. 1984 sprach der marxistische Führer Burkina Fasos, Thomas Sankara, vor den Vereinten Nationen über die Wichtigkeit der Hungerbekämpfung. Er sagte, jeder Mensch in seinem Land verdiene – mindestens – zwei Mahlzeiten am Tag und sauberes Wasser. Zu diesem Zweck trieb Sankaras sozialistische Regierung eine Agrarreform voran, die die Umverteilung von Land und das Pflanzen von Bäumen zur Bekämpfung der Austrocknung beinhaltete; er begann das Projekt un village, un bosquet («ein Dorf, ein Wäldchen»), das in der Pflanzung von zehn Millionen Bäumen innerhalb von fünfzehn Monaten resultierte. «Wir müssen mehr produzieren», sagte er, und uns nicht auf ausländische Hilfe und Nahrungsmittelimports verlassen, «denn es ist selbstredend, dass die, die einen ernähren, auch ihren Willen durchsetzen». «Unsere Mägen werden sich Gehör verschaffen», sagte Sankara, während er mit seinen Massnahmen den Hunger in Burkina Faso auslöschte, wie der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung Jean Ziegler berichtete. Sankara wurde im Jahr 1987 für seine Politik ermordet, und Burkina Faso verwandelte sich zur Ruine des grossen Befreiungstraums.

 

José Francisco Borges, O Crime Ecológico

José Francisco Borges, O Crime Ecológico (Umweltverbrechen), 2004.

 

Die brasilianische Sängerin Zélia Barbosa veröffentlichte 1971 ihr Album Brazil: Songs of Protest, auf welchem sie ein Stück von Edu Lobo und Ruy Guerra von 1964 neuinterpretiert: «Ohne Land, in dem wir leben, ein Feld, das wir bestellen, ein Liebe, die wir pflegen, oder eine Stimme, mit der wir singen, sind wir tot.»

 

Zélia Barbosa, Sertão & favelas (Sertão und Favelas), 1968

 

In Brasilien und vielen weiteren Teilen der Welt entriss die Schaffung massiver feudaler Landbesitztümer (latifundios) – und nun auch Agrarbetriebe – Hunderten von Millionen Bäuer*innen auf der ganzen Welt die Kontrolle über ihre Produktionsmittel und Überlebensmechanismen. Einmal enteignet, sind sie gezwungen, ihre Arbeitsleistung an Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe zu verkaufen. Entwurzelt von ihrem Boden, wurden Landwirtschafts- und Industriearbeiter*innen im globalen Süden zu streunenden Arbeitskräften, die auf der Suche nach Arbeit einer endlosen Spirale von Feld zu Fabrik und von Fabrik zu Feld folgten.

Erbarmungslose Ausbeutung und Landhunger bewirkten gemeinsam die Entstehung politischer Bewegungen für Landreform und gewerkschaftliche Organisierung auf der ganzen Welt. In Brasilien führten ebendiese Entwicklungen 1984 zur Gründung der Bewegung der landlosen Arbeiter*innen (MST), die Land besetzte, Siedlungen baute und eine Kultur der Zusammenarbeit, Solidarität und Genossenschaften als Mittel zur Förderung des Kampfes der Landarbeiter*innen und der landlosen Armen schuf. Ihr Kampf hat landlose Arbeiter*innen auf der ganzen Welt inspiriert, ihr Recht auf Boden einzufordern – von Argentinien über Haiti bis Simbabwe. Für die MST begann es als Kampf um Boden, aber er hat sich politisch entfaltet zu einem Kampf gegen soziale Unterdrückung aller Art – wie Rassismus, Patriarchat, Homophobie – und für eine totale soziale Transformation. Kämpfen ist etwas, womit die Afrobrasilianer bestens vertraut sind. Sie führten den Kampf gegen das Sklavensystem an und kämpfen heute an vorderster Front mit um Boden und für die Verteidigung der Natur; die Geschichte ihres Kampfes erlöst die Menschheit von ihren schlimmsten Auswüchsen.

 

 

 

Unser Tricontinental: Institute for Social Research Dossier Nr. 27 – zum Thema populärer Agrarreformen und dem Kampf um Boden in Brasilien – erforscht die lange Geschichte der Bodenkämpfe in Brasilien und bietet eine aufklärende Einführung in die Ideen und die Arbeit der MST. Der zweite Teil des Dossiers beschreibt Leben und Arbeit in der dreißig Jahre alten Siedlung Conquista na Fronteira («Eroberung an der Grenze») in der Gemeinde Dionísio Cerqueira im Bundesstaat Santa Catarina. Irma Brunetto, die dort seit ihrer Gründung lebt, gibt uns einen Einblick in die Organisation der Siedlung, wie die Menschen dort leben, wie sie das Land kooperativ bewirtschaften, wie ihre Kinder lernen und wie sie sich um die allgemeine Gesundheit kümmern. «Wir schwimmen in einer so individualistischen Gesellschaft wie der unseren gegen den Strom», sagt Irma. Aber sie weiß, dass die kooperative Methode die einzig mögliche ist für einen Planeten verwüstet von Konflikten und Hunger, vom Versagen der bürgerlichen Ordnung.

Oxfam und die Vereinten Nationen haben am 8. April eine Studie veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass es aufgrund von COVID-19 zu einem 20%igen Einkommens- oder Konsumrückgang kommen könnte; dies bedeutete, dass die Zahl der in Armut lebender Menschen um 420 bis 580 Millionen ansteigen wird. Zum ersten Mal seit dreissig Jahren wird die Zahl der in Armut lebenden Menschen zunehmen, und zum allerersten Mal wird der Anstieg in so kurzer Zeit erfolgen. Die Auswirkungen auf ländliche Gebiete werden gravierend sein. Die bürgerliche Ordnung weiß keine Antwort auf das Leid; im Kontrast zu ihnen experimentieren Organisationen wie die MST – orientiert am sozialistischen Horizont – bereits für die Zukunft.

 

 

João Pedro Stédile ist Mitglied der nationalen Führung der MST. Ich habe diese Woche mit ihm über Brasiliens Umgang mit dem Corona-Schock und die Notwendigkeit einer Agrarreform gesprochen.

 

Wie lautet Ihre kurze Einschätzung, warum die brasilianische Oberschicht sich weigert, sich mit der Tatsache der Landknappheit auseinanderzusetzen?

Brasilien ist das Land mit der höchsten Konzentration von Grundbesitz in der Welt. Dies geht auf unsere koloniale Vergangenheit zurück; 400 Jahre lang war Boden im Besitz der Monarchie, die sich auf die Arbeitskraft von Sklaven, indigenen Völkern und Afrikanern verließ. Unsere Oberschicht stützt sich im Wesentlichen auch heute noch auf die Sklaverei; sie versteht Arbeiter*innen lediglich als auszubeutende Objekte.

Wir haben die Gelegenheit verpasst, eine Agrarreform durchzuführen, als 1888 die Sklaverei abgeschafft wurde, so wie dies in den Vereinigten Staaten, Haiti und anderen lateinamerikanischen Ländern der Fall war. Dann haben wir erneut eine Gelegenheit verpasst, als wir im 20. Jahrhundert in den industriellen Kapitalismus einstiegen und keinen Binnenmarkt aufbauten. Wir haben die Gelegenheit auch in den 1960er Jahren verpasst, als sogar die Kennedy-Administration in den Vereinigten Staaten – verängstigt durch die kubanische Revolution – dabei war, Agrarreformen als Mittel zur Eindämmung des Fortschreitens der Revolutionen auf dem Kontinent zu verteidigen.

In Brasilien setzt sich die wirtschaftliche Macht und die Oberschicht aus Großgrundbesitzern, Industriekapital, Banken und transnationalen Agrarunternehmen zusammen, die sich zusammenschließen und gemeinsam handeln; diese Akteure bevorzugen ein Modell, das die Agrarindustrie konzentriert, gegenüber einem Modell, das Agrarreformen ermöglicht.

Ist Brasilien reif für ein neues historisches Projekt aus dieser neo-faschistischen Sackgasse? Wird Bolsonaros dekadente Reaktion auf Corona dem Neofaschismus einen Dämpfer versetzen?

Die brasilianische Gesellschaft befindet sich in der größten Krise ihrer Geschichte. Seit 2014 befinden wir uns in einer tiefen Wirtschaftskrise, die zu einer sozialen Krise mit Arbeitslosigkeit, Prekarisierung und größerer Abhängigkeit vom Finanzkapital führte, die sich dann mit dem Putsch gegen Dilma und der anschließenden Wahl einer neofaschistischen Regierung zu einer politischen Krise entwickelte.

Der Ausbruch des Coronavirus hat diese Krise in jeder Hinsicht verschärft, was aus sozialer Sicht noch verheerender ist, denn – wie wir in anderen Ländern gesehen haben – die einzige Möglichkeit, den Virus zu bekämpfen ist eine starke Regierung, mit Volksorganisationen und -führungspersönlichkeiten an vorderster Front. Die neofaschistische Regierung ist das komplette Gegenteil, und vertritt nur 8% von fanatischen Anhängern, Neofaschisten, Pentekostalen und einer Lumpenbourgeoisie. Ich glaube, dass das Coronavirus uns helfen kann, das Bewusstsein der Menschen zu schärfen und die Bourgeoisie und die Mittelschicht zu spalten, und dass wir – sobald wir auf die Straße zurückkehren – die faschistische Regierung stürzen werden.

Die neofaschistische Regierung ist demoralisiert. Das einzige, was ihr übrigbleibt, ist, der Ideologie der Trump-Administration zu folgen; beide befinden sich auf demselben sinkenden Schiff. Auch das Imperium der Vereinigten Staaten wird von dieser Krise besiegt werden.

 

Was wird die nicht-ländliche Bevölkerung dazu bringen, die Notwendigkeit einer Agrarreform zu verstehen?

Die wirtschaftliche, soziale, politische sowie die Coronavirus-Krise tragen dazu bei, der Bevölkerung – von der 85% in Städten leben – zu zeigen, dass wir ein neues antineoliberales, antiimperialistisches Wirtschaftsmodell organisieren müssen. Wir hoffen, neue Paradigmen der sozialen Organisation schaffen zu können.

Eines dieser Paradigmen ist, dass wir gesunde Lebensmittel brauchen, um die Gesundheit der gesamten Bevölkerung zu gewährleisten. Nur Kleinbauern und Bauern können gesunde Lebensmittel produzieren; die Agrarindustrie produziert keine gesunden Lebensmittel – sie produziert Handelswaren und ist ausschließlich an Profiten interessiert. Das ist antisozial.

In der nahen Zukunft werden die Voraussetzungen besser sein, um der Bevölkerung zu erklären, dass die neue Agrarreform nicht nur Großgrundbesitz umverteilen und Beschäftigung für die Bäuer*innen schaffen wird. Diese neue Art der Agrarreform basiert auf neuen Paradigmen: gesunde Nahrungsmittel für alle produzieren, auf Basis eines agroökologischen Modells, das im Einklang mit der Natur steht, das Wasser schützt und mitkämpft gegen Ungleichheiten und Umweltkrisen wie den Klimawandel. Diese neue Agrarreform wird auch Nahrungsmittel mit Hilfe der Agroindustrie und wissenschaftlicher Erkenntnisse produzieren, um unsere Ernährungssouveränität zu sichern. Das heißt, jede Region oder jedes Territorium wird eigene Nahrungsmittel produzieren und so die Abhängigkeit vom internationalen Handel mit transnationalen Unternehmen verhindern. Wir werden internationalen Lebensmittelhandel nur mit dem Überschuss betreiben, der produziert wird, nachdem sichergestellt ist, dass alle unsere Menschen ernährt sind. Wir werden die lokale Küche und die Kultur unseres Volkes schätzen. Wir werden den Zugang zur Bildung für die gesamte Bevölkerung, auch auf dem Land, gewährleisten. Diese populäre Agrarreform wird nicht nur der Bauernschaft, sondern der gesamten Bevölkerung zugutekommen, von der ein Großteil bereits in den Städten lebt.

 

Sebastião Salgado, The struggle for land- the march of a human column

(Sebastião Salgado, A luta pela terra: a marcha de uma coluna humana (Der Kampf um Boden: Der Marsch einer langen Menschenkolonne), 1997.

 

Das ist die zukunftsweisende Agenda, die menschliche Ängste nicht in Hass verwandelt.

Aus einer solchen Weltsicht spricht der MST-Führer und Dichter Ademar Bogo in dem bezaubernden Gedicht É tempo de colher! (Zeit, zu Ernten!):

Es gibt Momente der Geschichte
in der alle Siege
zu entgleiten scheinen.
Doch es gewinnt, wer nicht aufgibt
und in seiner Selbstwertschätzung
die Kraft sucht, weiterzumachen.

Die Zeit vergeht langsam
doch mit ihr vergeht auch der Glanz der Eroberer
Die, die Hände zum schaffen haben
werden sich aufrichten müssen und entscheiden
an welchem Tag ihren Schmerz zu vergraben
und sich aus allen Ecken zu erheben
um zu sagen, es ist Zeit, zu Ernten
all das was gesät wurde
Menschen sind wie Meerwasser
Obwohl sie sich langsam bewegen
beweisen sie durch ihr wiegen
dass sie nie gebrochen werden können

Wir bewässerten die Wüste des Gewissens
und ein neues Wesen wurde geboren
Es ist Zeit, loszugehen, Genosse
Du bist der Kämpfer, den die Geschichte uns gegeben hat.

Die Zeit ist gekommen, um die Hierarchien und das Elend der Vergangenheit hinter uns zu lassen und die möglichen – und nötigen – Zukunftsutopien zu realisieren. Diese Zukunft ist es, die es zu kultivieren gilt.

Herzlichst, Vijay.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.