Kalia Venereo (Dominio Cuba), Nunca Más, 2020.

Kalia Venereo (Dominio Kuba), Nunca Más (Nie wieder), 2020.

 

Liebe Freund*innen

Grüße vom Pult des Tricontinental: Institute for Social Research.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Diesen Newsletter zu lesen,ist kein Vergnügen. Es geht um Schulden. Die Art, wie wir über Schulden der ärmeren Nationen sprechen, ist seelenlos und bürokratisch. Nichts lebt. Die Zahlen sind befremdlich, was sie belegen, ist schockierend.

Mitte April forderten achtzehn Regierungschef*innen aus Afrika und Europa die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds, die Afrikanische Entwicklungsbank und die Neue Entwicklungsbank sowie andere regionale Institutionen öffentlich auf, ein «sofortiges Moratorium für alle bilateralen und multilateralen Schuldenzahlungen, sowohl öffentlicher als auch privater Natur» zu erlassen, «bis die Pandemie vorüber ist». In der Zwischenzeit wurden diese Institutionen – und andere – aufgefordert, «Liquidität für die Beschaffung von Grundbedarfsgütern und medizinischer Grundversorgung herzustellen».

Am 30. April schrieb Abiy Ahmed, Premierminister Äthiopiens, dass die Forderung nach einem Schuldenaufschub nicht reiche; nötig sei ein Schuldenerlass. Im Jahr 2019 gaben vierundsechzig Länder (die Hälfte davon auf dem afrikanischen Kontinent) bezeichnenderweise mehr Geld für den Schuldendienst als für die Gesundheitsversorgung aus; die Regierungen von 121 Ländern mit niedriger und mittlerer Einkommensstruktur gaben 10,7% ihrer Einnahmen für die öffentliche Gesundheit aus, während sie 12,2% für die Bezahlung der Auslandsschulden aufwendeten. Äthiopien, schrieb Ahmed, «gibt doppelt so viel für die Tilgung der Auslandsschulden aus wie für die Gesundheitsversorgung». Im vergangenen Jahr erklärte der IWF, dass Äthiopien zu den fünf am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt gehöre. Dies wird aufgrund der Auswirkungen des Coronavirus nicht mehr der Fall sein. Äthiopien, so Ahmed, werde in eine Coronavirus-Rezession abrutschen.

Ende März kündigte der IWF an, neue Kredite im Umfang von 1 Billion US-Dollar bereitzustellen, um zu verhindern, dass Länder in eine Coronavirus-Rezession geraten (auf Druck des US-Finanzministeriums schloss der IWF Venezuela aus). Innerhalb kurzer Zeit riefen mehr als hundert Länder den IWF um Hilfe an. Der IWF und die G20 strichen entweder die Schuldenzahlungen für die nächsten sechs Monate oder froren die Schulden für den Rest des Jahres ein. Die G20 erklärten, dass der Schuldendienst in Höhe von 32 Milliarden US-Dollar, der gegenüber staatlichen, privaten und multilateralen Gläubigern zu leisten ist, in 76 Ländern ausgesetzt wird. Zum Vergleich: Die derzeitigen Schuldenstände der Entwicklungsländer liegen –– bei über 8 Billionen US-Dollar. Da es keine internationale Schuldenbehörde gibt, sind diese Initiativen unzureichend. Die privaten Gläubiger sind nicht verpflichtet, den Initiativen zu folgen, was bedeutet, dass viele der hoch verschuldeten Länder weiterhin ihre Schulden bei ihnen bedienen müssen. Es ist die Rede von der Schaffung eines «zentralen Kreditinstituts», welches im Rahmen der Weltbank entwickelt würde und bei der die verschuldeten Länder ihre Schulden einlegen und die Weltbank mit den Gläubigern verhandeln könnten; nach dem Coronavirus würde die Schuldenlage neu bewertet werden.

 

Belén Marco Crespo, Wer erhält das Leben? 2020.

 

Weitaus ehrgeiziger ist der Vorschlag der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD), eine internationale Schuldenbehörde für Entwicklungsländer einzurichten. Dieses Gremium hätte ein doppeltes Mandat: erstens, vorübergehende Stillstände bei der Schuldenrückzahlung zu überwachen, um Entwicklungen wie eine Coronavirus-Rezession abzuwenden; zweitens, die Notwendigkeit einer grundlegenden Schuldenerleichterung (einschließlich Schuldenerlass) sorgfältig zu prüfen. Die UNCTAD hat in den Jahren 1986, 1998, 2001 und 2015 ähnliche Vorschläge unterbreitet; jedes Mal haben die mächtigen Gläubiger und die wohlhabenden Nationen diesen Ansatz abgelehnt. 1985 war die kubanische Regierung Gastgeberin der Schuldenkonferenz von Havanna, auf der Fidel Castro für einen Schuldenstreik der Dritten Welt plädierte, um Druck auf die Gläubiger auszuüben, um sie an den Tisch zu bekommen; der immense Druck auf die weniger zuversichtlichen Staaten ließ diesen Ansatz entgleisen. Weder die UNCTAD noch die Schuldenkonferenz von Havanna konnten diese Agenda voranbringen. Sie liegt nun wieder auf dem Tisch.

Am 16. April sagte US-Finanzminister Steven Mnuchin unverblümt, dass die USA gegen jede dieser aggressiveren Maßnahmen sind. Das höchste, was die USA akzeptieren würden, sei eine «zeitgebundene Aussetzung der Schuldendienstzahlungen» im G20- und Pariser Club (offizielle Gläubiger), während der Londoner Club (private Gläubiger) aufgefordert werde, auf freiwilliger Basis zu handeln. Die USA haben nicht nur ein Machtwort gesprochen, mit dem sie eine angemessene sofortige Erleichterung verhindern, sondern sie haben auch erklärt, dass kein langfristiger Schuldenerlass akzeptiert wird. Wenn es in den Ländern des Globalen Südens eine Coronavirus-Rezession gibt, dann ist es eben so.

 

Ezrena Marwan, Labour (2020)-1

Ezrena Marwan, Objekte und Arbeit, 2020.

 

Eines der Länder, die in eine Coronavirus-Rezession rutschen werden, ist Jamaika, wo der Minister für Finanzen und öffentlichen Dienst Nigel Clarke sagte, dass «der Tourismussektor bei Nullauslastung arbeite und die Aussichten und der Zeitpunkt der Wiedereröffnung unklar seien». Im November 2019 erfüllte Jamaika seine Verpflichtungen in Bezug auf ein IWF-Darlehen; die Leiterin des IWF-Teams, Uma Ramakrishnan, sagte, Jamaika erwarte eine glänzende Zukunft. Doch diese euphorischen Worte standen am Ende eines Prozesses schrecklicher Sparmaßnahmen auf der Insel.

Christophe Simpson, Vorsitzender von Jamaica Lands, sprach mit Tricontinental: Institute for Social Research über die Situation der Verschuldung und des Gesundheitswesens in Jamaika. Simpson betont, dass in Jamaika 90% der Menschen von der versklavten Bevölkerung abstammen, deren Arbeitskraft von den Briten ausgebeutet wurde. Als das Volk seine Freiheit erlangte, entschädigte der britische Fiskus die Plantagenbesitzer*innen für den «Verlust» ihres «Eigentums»; das Darlehen, das die britische Regierung zur Bezahlung der Plantagenbesitzer*innen aufgenommen hatte, wurde erst 2015 zurückgezahlt.Im gleichen Jahr kam der britische Premierminister David Cameron nach Jamaika, um zu erklären, dass Reparationen für die ehemals versklavten Menschen und ihre Nachkommen nicht machbar seien. Der Kolonialismus machte Jamaika abhängig vom Tourismus und beschränkte die wirtschaftliche Souveränität des Landes.

«Wir befinden uns in einer endlosen Spirale der Verschuldung», sagte Simpson. Internationale Institutionen wie der IWF legen die Bedingungen der Geldvergabe fest, sodass wir zum Beispiel nicht mehr als 9% unseres BIP für Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor ausgeben dürfen. Das erzwingt Kürzungen im Gesundheits- und Bildungswesen, was bedeutet, dass Pflegefachpersonal und Lehrer*innen unterbezahlt sind. Und diese Pflegefachpersonen und Lehrer*innen werden mit Versprechungen von höheren Löhnen in Länder wie die Vereinigten Staaten, Kanada und Großbritannien aus Jamaika gelockt. «Diese Länder profitieren von unserer Verschuldung», erklärte Simpson. Jamaikas Bevölkerung gönnt sich kostenlose Grund- und Sekundarschulbildung und trägt die Hälfte der Kosten für die tertiäre Bildung; 80% der Hochschulabsolvent*innen verlassen die Insel, um im Ausland zu arbeiten. Jamaika, das jahrhundertelang geplündert wurde, subventioniert quasi den Gesundheitssektor in den Nordatlantikstaaten.

 

 

Elean Thomas (1947-2004), eine Gründerin der Arbeiterpartei Jamaikas, sinnt in ihrem Buch Before They Can Speak of Flowers: Word Rhythms (1988) darüber nach, wie oft sie angehalten wurde, sich nicht in die Politik oder – wie sie es in der cleveren jamaikanischen Variante ausdrückte – in die Politricks einzumischen. Doch weder Hunger noch Krankheit hat mit etwas Anderem als Politik zu tun, denn durch politische Entscheidungen werden den Menschen Ressourcen gestohlen, die dann die Demütigungen der Armut erleiden.

 

How I fe no deal with politics?
when Politricks a deal with me.
Take for instance…
the good book says
‘By the sweat of your brow
you shall eat bread’
But don’t you know
whole heap of people
a sweat rivers
every day
and still can’t find no bread
to eat?
Politricks
is what decide that.

Wie soll ich mich nicht um Politik kümmern?
Wenn die Politik mich bekümmert.
Wie zum Beispiel wenn
das gute Buch sagt
«Im Schweiß deines Angesichts
sollst du dein Brot essen»

Aber ist dir nicht bewusst,
eine ganze Menge Menschen
schwitzen Bäche
jeden Tag
und finden dennoch kein Brot
zum Essen?

Die Politricks
bestimmen das.

 

Dossier 28_EN_IG-2

Vikas Thakur, «Heimat», ein ferner Traum für Indiens Arbeitsmigranten, 2020.

 

Unser Tricontinental:  Institute for Social Research Dossier Nr. 28 (Mai 2020) zum Thema «CoronaShock: A Virus and The World» konzentriert sich auf die Politik – oder die Politricks – der Gegenwart. Der Virus der Sparsamkeit und der erzwungenen Schuldknechtschaft hat eine fragile Weltordnung hervorgebracht, die infolge der globalen Pandemie zerbröckelt ist. Das Dossier befasst sich mit den politischen Vorgaben des Neoliberalismus, der die grundlegenden sozialen Institutionen, die für Gesundheitsversorgung und Bildung zuständig sind, ausgehöhlt hat und dabei eine Welt geschaffen hat, in der die unproduktive Finanzwirtschaft das Sagen hat und in der Firmen, die aufriesigen Plattformen oder Webseiten basieren einen großen Teil der Wirtschaft in der Hand haben.

Zusammen mit der Internationalen Volksversammlung erarbeitete das Tricontinental: Institute for Social Research eine 16-Punkte-Erklärung, die Soforthilfe und langfristige Maßnahmen umfasst. In unserem jüngsten Dossier befassen wir uns eingehend mit einer dieser Maßnahmen, der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). Wir legen unsere kritische Analyse des BGE-Systems dar und bieten unsere Einschätzung an, warum es ein gänzlich bedingungsfreies System sein muss und warum es durch Besteuerung der Reichen sowie Steuern auf Gewinne finanziert werden muss und nicht durch die Demontage anderer sozialer Dienstleistungssysteme. Wir vertreten einen sozialistischen Ansatz gegenüber dem BGE und bestehen darauf, dass es eine Ergänzung zu anderen Soziallöhnen sein muss, anstatt den Mythos der «verdienten Armut» aufrechtzuerhalten, um auszusortieren, wer dafür in Frage kommt und wer nicht.

Dossier Nr. 28 wurde von acht Künstler*innen von Kuba bis Malaysia illustriert, die sich zusammengetan haben, um Bilder zu schaffen, die das grosse Lockdown darstellen. Dieser Newsletter stellt einige ihrer Arbeiten vor.

 

Ein Aufruf an Künstler für antiimperialistische Plakatausstellungen

 

Die Zusammenarbeit mit Künstler*innen ist ein wichtiger Punkt unserer Arbeit. Aus diesem Grund haben wir uns mit der Internationalen Volksversammlung und der Internationalen Woche des antiimperialistischen Kampfes zusammengetan, um eine Posterausstellung zu vier verschiedenen Themenbereichen – Kapitalismus, Neoliberalismus, hybrider Krieg und Imperialismus – zu veranstalten. Bitte leitet den Aufruf für diese Ausstellung weitreichend weiter.

 

Dar Yasin (Assoziierte Presse), Srinagar, Kaschmir, 9. August 2019.

 

Drei AP-Fotografen – Dar Yasin, Mukhtar Khan und Channi Anand – erhielten den Pulitzer-Preis für ihre Fotografien über die Kämpfe in Kaschmir. Bitte beachtet  unseren Red Alert für Kaschmir.

 

Herzlichst, Vijay.