Liebe Freund*innen

Grüsse vom Pult des Tricontinental: Institute for Social Research.

Vor einem Vierteljahrhundert trat Victoria Sandino Palmera den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens – Volksarmee (die Revolutionary Armed Forces of Colombia – People’s Army, kurz FARC-EP) bei. Davor war sie aktiv in der Kommunistischen Partei und trat – als die FARC-EP in den 90er Jahren nicht mehr im Untergrund war – dem Patriotischen Pol bei. Aber die Unterdrückung durch die so genannte «traditionelle Oligarchie» trieb sie immer wieder in den Dschungel zurück. Victoria Sandino betont, dass sie nicht am Krieg interessiert war. «Wir griffen nicht zu den Waffen, weil wir das Bedürfnis verspürten, Gewalt anzuwenden», sagte sie mir 2015. «Wir griffen zu den Waffen, weil unser Versuch, die Bodenfrage mit demokratischen Mitteln zu lösen, vom Staat mit Gewalt beantwortet wurde. Gewalt wurde uns aufgezwungen».

Die Historical Memory Group des Nationalen Zentrums für Historisches Erbe mit Sitz in Bogotá (Kolumbien) rechnet aus, dass zwischen dem 1. Januar 1958 und dem 31. Dezember 2012 mindestens 220.000 Menschen durch den Bürgerkrieg getötet wurden. Der bahnbrechende Bericht des Nationalen Zentrums für Historisches Erbe kommt zum Schluss, dass die Hauptursache für diesen Krieg die «Aneignung, Nutzung und der Besitz von Land» war. Diese Einschätzung stieß auf: «Die Sektoren, deren wirtschaftliche und politische Macht auf Landbesitz beruht, haben betrügerisch gegen Agrarreformen sowie gegen alle Bemühungen zur Demokratisierung des Landbesitzes oder zur Rückgabe gestohlenen Eigentums angekämpft. Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart haben sie auf legale Kunstgriffe und gewalttätige Mittel zurückgegriffen, darunter die Ermordung der Führer und die Verfolgung der Mitglieder von Kleinbauernorganisationen.» Dies entspricht der Aussage von Victoria Sandino, Gewalt wurde uns aufgezwungen.

Warum nimmt die Regierung indigenen Menschen ihre Rechte und gibt sie stattdessen multinationalen Konzernen? Mobilisierung im Departement Cauca, 2013. Marcha Patrióticas Kommunikationsteam.

Unser Dossier Nr. 23 (Dezember 2019) trägt den Titel Peace, Neoliberalism, and Political Shifts in Colombia. Die Group of Colombian Critical Thought am Lateinamerika-Institut der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Buenos Aires hat es erstellt. Im Jahr 2016 unterzeichneten die Kriegsparteien des Bürgerkriegs in Havanna (Kuba) die Friedensabkommen, die eine neue Zeit für das Land versprachen. Victoria Sandino gehörte zum FARC-EP-Team, das die Abkommen ausgehandelt hat. Auf die Frage, was sie tun würde, wenn Frieden eintritt, sagte sie, dass sie sich danach sehnt, zu ihrer Familie zurückzukehren, und dass sie die Tochter ihrer Kampfgenossin Laura finden wolle, die im Kampf gefallen ist. «Ich will ihr erzählen», sagte die nicht nur Krieg dem Frieden vorzieht, sondern auch die Entstehungsgründe des Konflikts verstärkt. Diese Struktur umfasst das Monopol einer kleinen Minderheit über die Wirtschaft, einschließlich der Landwirtschaft und des Bergbaus. Der Boden wurde militarisiert, um die Profite der kolumbianischen Elite zu sichern. Das ist der Hauptgrund für den Krieg und den Widerstand der Oligarchie gegen den Frieden. Statt eines Friedensprozesses würde die kolumbianische Oligarchie die sri-lankische Lösung vorziehen – namentlich den brutalen bewaffneten Angriff der sri-lankischen Regierung in 2008/09  nicht nur gegen die Tamilischen Tiger (LTTE), sondern auch gegen die weitgehend tamilische Bevölkerung in der Enklave Jaffna. Am Ende des Angriffs hielt die sri-lankische Regierung über 300.000 Zivilisten in Konzentrationslagern fest (2014 richtete die UNO ein Tribunal zur Untersuchung von Kriegsverbrechen in Sri Lanka ein, aber die Regierung hat sich geweigert, mit den Ermittlungen der UNO zu kooperieren; der Bericht der UNO dazu ist erschütternd). Das ist es, was Uribe und seine Anhänger vorziehen – keinen Friedensprozess, sondern Krieg bis zum bitteren Ende.

Nationaler Marsch der Indigenen, Mai 2016, Departement Cauca. Marcha Patrióticas Kommunikationsteam.

Krieg ist das logische Resultat eines Systems, das auf struktureller Ungleichheit basiert. Wenn es der überwiegenden Mehrheit der Menschen auf der Welt nicht möglich ist, ein Leben in Würde zu führen, dann werden sie gegen ihre Lebensbedingungen rebellieren. Selbst die bescheidensten Proteste (z.B. ein Marsch) für vermeintlich vernünftige Forderungen (Landreform) werden durch das, was Franz Fanon den «alten Granitblock» nannte, und asymmetrische Gewalt abgewürgt. Es ist viel teurer, einen Zustand der Unterdrückung zu verwalten, als einen Zustand der Gleichheit zu schaffen, aber für die Oligarchie – den alten Granitblock – ist für den Krieg ausgegebenes Geld wirksamer als das für den Frieden ausgegebene. In seinen monumentalen Notizen – Grundrisse (1857) – schrieb Karl Marx: «Krieg versteht sich von selbst, da er unmittelbar ökonomisch dasselbe ist, als wenn die Nation einen Teil ihres Kapitals ins Wasser würfe». Aus gesellschaftlicher Sicht sind Krieg und Unterdrückung unlogisch, aus kapitalistischer Sicht verhindert Krieg soziale Revolutionen und schafft Profitmöglichkeiten. Ein Synonym für Kapitalismus ist die «permanente Kriegswirtschaft», deren Ziel es nicht ist, Sicherheit zu schaffen, sondern die Klassenbeziehungen für immer einzufrieren. Das ist das Grundargument unseres neuen Dossiers.

Vor einigen Tagen veröffentlichte das Stockholm Peace Research Institute (SIPRI) einen Bericht über den Waffenverkauf. Die Umsätze der größten 100 Unternehmen im Waffen- und Militärdienstleistungsverkauf beliefen sich 2018 auf 420 Milliarden US-Dollar, was einem Anstieg von 4,6% gegenüber 2017 entspricht. Die von SIPRI aufgebaute Datenbank geht bis ins Jahr 2002 zurück. Der Umsatz mit Waffen und militärischen Dienstleistungen ist zwischen 2002 und 2018 um 47% gestiegen. Zum ersten Mal seit 2002 kommen die fünf größten Waffenverkäufer aus den Vereinigten Staaten von Amerika: Lockheed Martin, Boeing, Northrop Grumman, Raytheon und General Dynamics. Diese fünf Unternehmen allein verkauften Waffen und Dienstleistungen im Wert von 148 Milliarden Dollar, was 35% des Gesamtumsatzes der Top-100-Unternehmen entspricht. Alle US-Firmen verkauften zusammen 59% des weltweiten Gesamtumsatzes, was 246 Milliarden US-Dollar entspricht. Die Vereinigten Staaten sind der größte Waffenlieferant in Kolumbien.

Die Regierungen der USA und Kolumbiens haben ihre Beziehungen seit dem Plan Colombia (2001) vertieft. Das US-Südkommando überträgt die Kommandostruktur des US-Militärs auf das kolumbianische Militär. Kolumbianische Truppen reisen routinemäßig zu Treffen und Schulungen zu US-Militärstützpunkten, und kolumbianische Verteidigungsbeamte besuchen oft das Südkommando, um die Zusammenarbeit zu vertiefen (in diesem Jahr war Generalmajor Luis Navarro Jiménez von der kolumbianischen Armee zu Gast beim Chef der US-Marine, Admiral Craig Faller in Doral, Florida). Vorwand für diese Zusammenarbeit sind Drogenkrieg und venezolanische Flüchtlinge, der eigentliche Grund ist, gemeinsam den Status quo in Kolumbien zu erhalten.

 

Beatriz Gonzalez, Señor presidente, qué honor estar con usted en este momento histórico, 1987 – Eine     Gedenkfeier anlässlich des Vorfalls im Palace of Justice 1985, bei dem M-19-Kämpfer den Obersten Gerichtshof stürmten. Bei der vom Militär geleiteten Razzia wurde die Hälfte der Richter des Obersten Gerichtshofs getötet.

Die kolumbianische Oligarchie hat auf eine Weise Recht: Eine militarisierte Gesellschaft ist weniger anfällig auf soziale Unruhen. Nach Angaben des Centro de Investigación y Educación Popular haben die sozialen Unruhen in Kolumbien seit Beginn des Friedensprozesses im Jahr 2012 zugenommen. Kein Wunder also, dass die Straßen Kolumbiens seit dem 21. November dieses Jahres von Großstreiks heimgesucht werden. Klassische neoliberale Maßnahmen von Präsident Iván Duque – darunter Kürzungen der Leistungen für Rentner und Arbeitnehmer – provozierten Aufstände von Gewerkschaften, Studentenorganisationen und – schlussendlich – der Mehrheit der Gesellschaft. Duque und sein Mentor Uribe forderten eine militärische Lösung für die Proteste – mit der Polizei auf der Straße (einschließlich der Ermordung eines Studenten, Dilan Cruz) und Razzien in Medienhäusern und Orten künstlerischen Schaffens.

Video: Bomba Estéreos Auftritt am #UnCantoXColombia (Dezember 2019)

Bei einem Straßenkonzert sangen Bomba Estéreo zusammen mit 250 Künstlern an der Seite der Demonstranten; sie sangen una patria dormida que ya despertó….nuestra historia puede ser distinta, puede ser mejor (Eine schlafende Heimat, die bereits erwacht ist….unsere Geschichte könnte anders sein, sie könnte besser sein).

Gabriela Ngirmang vom kleinen Inselstaat Palau weiß, was es bedeutet, sich dem Granitblock entgegenzustellen; als sie und ihre Genossen auf eine atomwaffenfreie Verfassung drängten, erfuhren sie den heftigen Widerstand vieler, auch der Regierung der Vereinigten Staaten. Als 1979 die Verfassung zur Abstimmung kam, stimmten 92% von Palau dafür. Die USA wollten einen beträchtlichen Teil dieser pazifischen Insel für ihr Atomprogramm, einschließlich der Waffenlagerung nutzen. Der Druck aus Washington zwang das Volk von Palau, zwischen 1979 und 1994 (als Palau unter US-Treuhänderschaft stand) fünfzehn Mal abzustimmen, um die Integrität seiner Verfassung zu wahren. Palaus erster Präsident – Haruo Remeliik – wurde 1985 ermordet und in Ngirmangs Haus wurde eine Brandbombe gelegt. Die antinukleare Seite hat verloren. Heute kontrollieren die USA die militärischen und diplomatischen Angelegenheiten Palaus. US-Soldaten kehrten im April 2019 zum ersten Mal seit 37 Jahren wieder nach Palau zurück.

Willst du Frieden, bekommst du Krieg; willst du Krieg, wirst du reich.

Herzlich, Vijay.

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