Vyshakh T (People’s Dispatch), Aishe Ghosh, Student leader, Delhi Dezember 2019.

Liebe Freund*innen

Grüsse vom Pult des Tricontinental: Institute for Social Research.

Millionen von Menschen sind auf der Straße, von Indien bis Chile. Demokratie ist sowohl ihr Versprechen als auch das, was sie betrogen hat. Sie streben nach dem demokratischen Geist, müssen aber feststellen, dass die demokratischen Institutionen – den Bauch voll mit Geld und Macht – unzureichend sind. Sie sind auf der Straße für mehr Demokratie, für tiefergehende Demokratie, für eine andere Art von Demokratie.

In jeder einzelnen Region Indiens sind einfache, parteilose Menschen an der Seite der indischen Linken auf die Straße gegangen, um die Aufhebung eines faschistischen Gesetzes zu fordern, das Muslimen die Staatsbürgerschaft entziehen würde. Dieses riesige Aufbegehren wächst selbst dann weiter, wenn die Regierung Demonstrationen für illegal zu erklären versucht und das Internet abschaltet. Zwanzig Menschen wurden bereits von der Polizei getötet. Nichts von all dem hielt die Menschen auf, die lauthals verkündeten, dass sie es nicht akzeptieren, von der extremen Rechten erwürgt zu werden. Es bleibt ein unvorhergesehener und überwältigender Aufstand der Bevölkerung.

People’s Dispatch, India’s freedom struggle 2.0, this time it’s against fascists (Indiens Befreiungskampf 2.0, diesmal gegen den Faschismus), 21. Dezember 2019

Die Demokratie wurde von der kapitalistischen Macht gefesselt. Wenn Souveränität nur von den Zahlen abhinge, dann würden die Arbeiter*innen und Bäuer*innen, die städtischen Armen und die Jugend von Menschen vertreten, die ihre Interessen an erste Stelle setzen und ihnen mehr Früchte für ihre Arbeit bieten würden. Das Versprechen der Demokratie ist, dass die Menschen ihr Schicksal mitbestimmen können. Der Kapitalismus hingegen ist so strukturiert, dass die Kapitalisten – die Eigentumsbesitzer – Wirtschaft und Gesellschaft kontrollieren. Vom kapitalistischen Standpunkt aus kann man der Demokratie nicht freien Lauf lassen. Würde die Demokratie vollends durchgesetzt, dann würden auch die Mittel zur Produktion von Reichtum demokratisiert; das wäre ein Angriff auf bestehenden Besitz, und deshalb wird die Demokratie in Schach gehalten.

Liberale Demokratiesysteme entstehen rund um den Staat, aber diese Systeme dürfen nicht zu demokratisch werden. Sie sollen von dem repressiven Apparat des Staates in Schach gehalten werden, der die Demokratie im Namen von «Recht und Ordnung» oder Sicherheit einzuschränken sucht. Sicherheit oder «Recht und Ordnung» stehen im Wege einer vollumfänglichen Demokratie. Anstatt zuzugeben, dass das Ziel des Staates die Verteidigung von Eigentum ist, wird behauptet, dass die Aufrechterhaltung von Ordnung sein Ziel ist, was zur Verknüpfung verschiedenster demokratischer Praktiken mit Hooliganismus und Kriminalität führt. Die Forderung nach einem Ende der privaten Aneignung von sozialem Reichtum – was an sich schon Diebstahl ist – wird als Diebstahl bezeichnet; es sind die Sozialisten, nicht die Kapitalisten, die als Verbrecher bezeichnet werden – nicht gegen Eigentum, sondern gegen Demokratie.

Shonali Bose, New Delhi: December 19, 2019 (Neu-Delhi, 19. Dezember 2019)

Anhand dieses Kunstgriffs, mittels der Finanzierung privater Medien und anderer Institutionen, ist die Bourgeoise in der Lage, überzeugend vorzugeben, sie sei der Verteidiger der Demokratie; und dadurch kommt es, dass der Demokratiebegriff auf Wahlen und freie Presse reduziert wird – die beide in käufliche Waren verwandelt werden können – statt auf die Demokratisierung von Gesellschaft und Wirtschaft ausgeweitet zu werden. Soziale und wirtschaftliche Beziehungen werden von der demokratischen Dynamik ausgeschlossen. Die Gewerkschaften – das Werkzeug zur Demokratisierung von Wirtschaftsbeziehungen – werden offen verunglimpft und ihre Rechte beschnitten; soziale und politische Bewegungen werden entwaffnet, und es entstehen Nichtregierungsorganisationen (NRO), wobei diese ihre Agenda oft auf kleine Reformen reduzieren, anstatt die Eigentumsverhältnisse in Frage zu stellen.

Die Grenzen, die zwischen Wahlen und Wirtschaft, zwischen der Reduzierung von Politik auf Wahlen und der Verhinderung der Demokratisierung der Wirtschaft gezogen werden, lösen ein Gefühl der Zwecklosigkeit aus. Die Krise des Repräsentationssystems der liberalen Demokratie verdeutlicht dies. Sinkende Wahlbeteiligung ist eines der Symptome, andere sind der zynische Einsatz von Geld und Medien, um die Aufmerksamkeit von substanziellen Diskussionen über reale Probleme auf Phantasieprobleme umzulenken, von der gemeinsamen Lösungssuche für soziale Dilemmas auf die Erfindung abwegiger Gesellschaftsprobleme. Spaltende soziale Konflikte lenken von den Problemen des Hungers und der Hoffnungslosigkeit ab. Der marxistische Philosoph Ernst Bloch nannte dies das «Wunschbild des erfüllten Augenblicks». Den Nutzen der sozialen Produktion, so Bloch, «hat die grosskapitalistische Oberschicht, welche gotische Träume gegen proletarische Wirklichkeiten verwendet». Die Unterhaltungsindustrie zerfrisst die proletarische Kultur mit der Bitterkeit der im kapitalistischen System nicht erfüllbaren Sehnsüchte. Aber diese Sehnsüchte reichen aus, um sämtliche Projekte der Arbeiterklasse zu verdrängen.

Es liegt im Interesse des Bürgertums, jedes Vorhaben der Arbeiterklasse und der Bauernschaft zu zerschlagen. Dies geschieht sowohl durch Gewaltanwendung und durch das Gesetz als auch durch das Wunschbild des erfüllten Augenblicks, also durch die Schaffung von Sehnsüchten innerhalb des Kapitalismus, welche die politische Grundlage für eine postkapitalistische Gesellschaft zunichtemachen. Parteien der Arbeiterklasse und der Bauernschaft werden verspottet, weil sie es nicht verstehen, eine Utopie innerhalb der Grenzen des Kapitalismus zu produzieren; sie werden für ihre angeblich unrealistischen Vorhaben verspottet. Das Wunschbild des erfüllten Augenblicks, die gotischen Träume, gelten als realistisch, wogegen die Notwendigkeit des Sozialismus als unrealistisch abgestempelt wird.

Max Beckmann, Hölle der Vögel, 1937-38.

Die bürgerliche Ordnung hat jedoch ein Problem. Die Demokratie gründet auf der Unterstützung der Massen. Warum sollten die Massen Parteien unterstützen, die sich nicht für die unmittelbaren Bedürfnisse der Arbeiterklasse und der Bauernschaft einsetzen? Hier kommen Kultur und Ideologie ins Spiel. Das «Wunschbild des erfüllten Augenblicks» ist eine andere Art, um von Hegemonie zu sprechen – den Kreislauf, in dem das soziale Bewusstsein der Arbeiterklasse und der Bauernschaft nicht bloss von ihren eigenen Erfahrungen geprägt wird, anhand welcher sie das Trugbild als solches erkennen könnten, sondern eben auch von der Ideologie der Herrscherklasse, welche ihnen in den Medien, den Bildungseinrichtungen und in religiösen Versammlungen eingepeitscht wird.

Das Trugbild wird noch mächtiger, wenn die Grundstrukturen der sozialen Wohlfahrt – die auf das Drängen der Leute hin in die Regierungsprogramme aufgenommen wurden – zerfallen. Um die Brutalität der sozialen Ungleichheit, die aus der privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums durch die Bourgeoisie entstanden ist, zu mildern, wird der Staat vom Volk gezwungen, Sozialhilfeprogramme zu schaffen – öffentliche Gesundheit und Bildung sowie gezielte Programme für die Bedürftigen und die arbeitetenden Armen. Ohne diese Programme werden die Menschen in größerer Anzahl auf der Straße sterben, was das Wunschbild des erfüllten Augenblicks in Frage stellen würde. Infolge der langfristigen Rentabilitätskrise wurden jene Programme jedoch in den letzten Jahrzehnten zurückgefahren. Aus dieser Krise der liberalen Demokratie im Zuge der neoliberalen Sparpolitik resultieren eine hohe wirtschaftliche Unsicherheit und eine wachsende Wut auf das System. Eine Rentabilitätskrise wird zu einer politischen Legitimationskrise.

Reginald Marsh, Bread Line – No One Has Starved, 1932.

Demokratie ist ein Zahlenspiel. Oligarchien werden durch die Errichtung demokratischer Systeme gezwungen, die Tatsache zu respektieren, dass die Massen am politischen Leben teilnehmen. Die Massen sollen politisch sein, aber – vom bürgerlichen Standpunkt aus gesehen – dürfen sie die politische Dynamik nicht kontrollieren; sie sollen gleichzeitig politisch und entpolitisiert sein. Sie müssen genügend angeregt werden, aber nicht so sehr, dass sie die Membran, die Wirtschaft und Gesellschaft vor der Demokratie abschirmt, penetrieren. Reißt diese Membran, bedeutet dies das Ende der zerbrechlichen kapitalistischen Legitimität. Die Demokratie darf nicht auf die Wirtschafts- und Gesellschaftsarenen überschwappen; sie muss auf der Politikebene bleiben, wo sie sich auf Wahlprozesse beschränken muss.

Sparmaßnahmen belasten die Leben der Massen. Es kann ihnen niemand weismachen, dass sie nicht unter Kürzungen oder Arbeitslosigkeit leiden. Die Sparpolitik löst den Nebel der Trugbilder auf; das Wunschbild des erfüllten Augenblicks ist nicht mehr so verlockend wie vor den Einschnitten in die Grundbedürfnisse. Das Bürgertum zieht es vor, die Menschen in «Massen» statt in «Klassen» zusammenzufassen, in undefinierte Gruppen verschiedener gegensätzlicher Interessen, die der bürgerlichen Weltansicht angepasst werden können, anstatt sich ihren eigenen Klassenpositionen und Interessen zu widmen. Während also die Neoliberalen dem Untergang ihres politischen Projektes zusehen, während sich ihre eigenen Wunschbilder der Erfüllung rund um Begriffe wie «Unternehmertum» in Albträume von Arbeitslosigkeit und Bankrott verwandeln, entpuppt sich die extreme Rechte als Siegerin des Augenblicks.

Die extreme Rechte interessiert sich nicht für die Komplexität des Augenblicks. Sie befasst sich zwar mit den wichtigsten sozialen Problemen – Arbeitslosigkeit und Unsicherheit –, beschäftigt sich aber weder mit dem Kontext dieser Probleme noch mit den eigentlichen Widersprüchen, die es zu überwinden gilt. Der eigentliche Widerspruch besteht zwischen sozialer Arbeit und privater Anreicherung; die Krise der Arbeitslosigkeit kann ohne eine Lösung dieses Widerspruchs im Namen der sozialen Arbeit nicht bewältigt werden. Da so etwas für die Bourgeoisie unvorstellbar ist, bemüht sie sich gar nicht mehr, den Konflikt zu lösen, sondern begnügt sich mit einer «Lockvogel»-Strategie – von Arbeitslosigkeit zu sprechen wird geduldet, aber es ist unnötig, dem Privatkapital die Schuld dafür zu geben; letztere wird lieber Migranten oder anderen Sündenböcken angelastet.

Damit diese «Lockvogel»-Taktik gelingt, ist die extreme Rechte gezwungen, sich gegen eine andere Grundidee des klassischen Liberalismus zu stellen: dem Minderheitenschutz. Demokratische Verfassungen beweisen alle ein Bewusstsein für die «Tyrannei der Mehrheit», weshalb sie die Mehrheitshoheit mittels Gesetzen und Vorschriften zum Schutz von Minderheitenrechten und -kulturen einschränken. Diese Gesetze und Vorschriften waren unerlässlich für die Erweiterung der Demokratie in der Gesellschaft. Die Demokratie der Rechtsextremen gründet jedoch nicht auf diesem Schutz, sondern auf seiner Zerstörung. Sie hetzt die Mehrheit gegen die Minderheit auf, um die Massen für sich zu gewinnen, nicht aber, um eine Klassenpolitik zu ermöglichen. Die Rechtsextreme empfindet gegenüber den Traditionen und Regeln der liberalen Demokratie keine Loyalität. Sie benutzt ihre Institutionen, solange sie zweckdienlich sind, und vergiftet dabei die Kultur des Liberalismus, die zwar ernsthafte Mängel aufwies, aber zumindest Raum für politische Auseinandersetzungen bot. Dieser Raum schrumpft  jetzt, da eine äußerst gewaltsame Verteidigung der extremen Rechten zunehmend gerechtfertigt wird.

V. Arun Kumar (People’s Dispatch), Rapid Action Force, Delhi, 19 Dezember 2019.

Minderheiten werden im Namen der Demokratie entmündigt; Gewalt wird im Namen der Empfindlichkeit der Mehrheit entfesselt. Die Definition von Staatsbürgerschaft beschränkt sich auf die Merkmale der Mehrheit; den Leuten wird aufgetragen, die Kultur der Mehrheit zu akzeptieren. Das hat die BJP-Regierung in Indien mit dem Citizenship (Amendment) Act von 2019 getan. Das ist es, was die Menschen ablehnen.

Das Wunschbild des Mehrheitdenkens kann die Rechtsextreme als demokratisch erscheinen lassen, wenn es zum Schutz der Membran zwischen Politik (im rein wahlpolitischen Sinne) und Gesellschaft sowie der Wirtschaft agiert. Diese Membran gilt es um jeden Preis zu schützen, jegliche potentielle Ausweitung der Demokratie auf Gesellschaft und Wirtschaft ist verboten. Die Fiktion der Demokratie wird aufrechterhalten, da das Versprechen der Demokratie entsorgt wurde.

Es ist dieses Versprechen, das die Menschen in Indien, Chile, Ecuador, Haiti und anderswo auf die Straße treibt. Von uns allen des Tricontinental: Institute for Social Research: Wir sehen uns auf der Straße und ein frohes neues Jahr.

Herzlich, Vijay.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.